29 September 2022

Love Manifesto

Liebe, die schönste Kraft des Universums. Doch sie soll kein Instrument der Macht sein, sondern ein Pfad der Freiheit. Ich liebe dich, weil du bist. Nicht, weil du etwas Bestimmtes tust. Nicht, weil du eine bestimmte Eigenschaft hast. Nicht, weil du mir ein Bedürfnis erfüllst oder meinen Erwartungen entsprichst. Ich liebe dich, weil du bist. Und deswegen akzeptiere ich dich, wie du bist, mit all deinen bereichernden Stärken und all deinen wunderbaren Fehlern und Seiten, die mir nicht entsprechen. Denn das schärft meine Toleranz und meine eigene Grösse, einen Menschen anzunehmen, wie er ist. Unsere Liebe soll nicht darauf bauen, uns gegenseitig zu ergänzen. Sie ist da, um uns beide zu bereichern, um unser Glück zu teilen. Sie ist ein Pfad des Wachstums und wir haben beide Raum und Platz, uns zu entfalten. Weil ich dich liebe, wie du bist, gebe ich dir den Raum, den du brauchst. Und ich hole dich da ab, wo du stehst. Ich warte auf dich, wenn du eine Pause brauchst. Ich drossle mein Tempo, wenn es dir zu schnell geht. Und ich lasse dich geduldig deinen eigenen Weg gehen, im tiefsten Vertrauen, dass unsere Liebe uns trägt.

Ich bin dein Fels in der Brandung. Ich bin dein Fallschirm. Ich feuere dich an und kämpfe Seite an Seite mit dir, wenn das Leben dich herausfordert. Ich helfe dir auf die Beine, wenn du fällst. Ich akzeptiere aber auch, wenn du deine Herausforderungen alleine meistern möchtest – sei dir gewiss, dass ich da bin, sobald du mich rufst. Du weisst, dass ich immer für dich da bin.

Du bist frei wie ein Vogel. Meine Liebe legt dir keine Ketten an. Sie macht dich stärker und mutiger, denn sie hält dir den Rücken frei und ist immer da. Sie öffnet dir Perspektiven. Nie werde ich sie als Mittel der Macht gegen dich einsetzen, sie dir entziehen oder dir damit drohen. Unser Zusammensein soll nicht von der steten Angst, zu verlieren, bestimmt sein, sondern von der Gewissheit der bedingungslosen Liebe. Sie stellt nicht einmal die Bedingung, dass wir unser Leben gemeinsam verbringen. Du bist immer frei. Ich werde dich nie kontrollieren. Ich werde nie von dir verlangen, irgendetwas zu ändern, denn alles, was du je für unsere Liebe tust, tust du aus freien Stücken und von ganzem Herzen. Genauso werde ich alles, was ich für uns einsetze, frei und ohne Verpflichtung tun.

Unsere Liebe ist stark und einzigartig. Wir stellen sie nicht in Frage, wenn wir uns nicht einig sind. Wir sind uns bewusst, dass wir beide menschlich sind und stolpern und Fehler machen. Passiert das, verletzen wir uns, dann nehmen wir uns beide an der Hand und lernen. Wir stellen nie unsere Liebe in Frage, wenn unsere menschlichen Seiten zusammenprallen. Wir nehmen die Möglichkeit des Wachstums an. Wir übernehmen beide Verantwortung. Und wir sind uns bewusst, dass das Leben uns vor Herausforderungen, Zweifel und Ängste stellen wird. Wir geben uns Raum für diese Ängste, begegnen uns mit Respekt und nehmen uns gegenseitig an der Hand.

Wenn du Raum für dich brauchst oder ich deine Grenzen überschreite, kommunizierst du liebevoll mit mir. Wenn ich Raum brauche, fordere ich ihn liebevoll ein. Wir sind uns beide bewusst, dass der andere uns nichts schuldet. Dass all unsere Liebe, Sicherheit und Zufriedenheit in uns selbst beginnt und nicht den Ursprung im anderen hat. Wir laden uns gegenseitig nicht diese Bürde auf die Schultern. Wir tragen nur für uns selbst Verantwortung und lassen dem anderen die Möglichkeit, selbst für sich und sein Wohl zu entscheiden – und das, weil wir uns unsere Einzigartigkeit zutiefst respektieren. Unsere Liebe ist frei und stark. Unsere Verbindung ist kostbar und schützenswert. Wir begegnen uns stets mit Neugier und Freude und sehen das Beste im anderen. Wir wissen aber auch, dass wir stolpern und fallen können und wir in emotionalen Momenten entgegen unserer Überzeugung agieren können. Auch hier sind wir füreinander da, werfen uns nichts vor und erinnern uns liebevoll an unsere Basis: die bedingungslose Liebe. Wir respektieren und achten uns gegenseitig und ehren die Reinheit und Verbindung unserer Seelen. 

Auf uns wartet in der Ferne der Sonnenuntergang unseres Lebens. Wir nehmen uns an der Hand und gehen diesen Weg gemeinsam. Wir wissen nicht wie lange, aber wir gehen ihn so lange wie nur möglich gemeinsam. Und weil wir unsere Liebe ehren, setzen wir alles daran, sie zu bewahren. Wir sind ein Team mit einem gemeinsamen Ziel: Freiheit, Glück und Zufriedenheit. Und unsere Liebe ist die Kraft, die uns auf diesem Weg begleitet – so weit uns unsere Füsse tragen.

19 Februar 2022

Fairytale gone good

Ein stechender Schmerz, ein leises Fluchen. Warum erhält man an diesen Kaffee-Take-Aways den Latte eigentlich immer so heiss, dass man ihn erst 5 Minuten abkühlen lassen muss, um ihn trinken zu können? Und dann vergisst man, nach 5 Minuten zu probieren, und danach ist er schon wieder zu kalt. Sie rieb sich den Mund und setzte sich auf eine Bank. Koffer rollten surrend vorbei, Menschen verabschiedeten sich liebevoll, Kinder rannten aufgeregt herum. Die Durchsage wies zum wiederholten mal darauf hin, dass man sein Gepäck nicht unbeaufsichtigt stehen lassen soll. Der Flughafen. Ein magischer Ort. Ein Sehnsuchtsort. Ein Ort voller Geschichten. Sie drehte ihren Starbucks-Becher in ihren Händen umher und las „Taia“. Noch nie hatte jemand ihren Namen auf Anhieb richtig geschrieben, vom Aussprechen ganz zu schweigen. Taija. Ein finnischer Name mit Wurzeln in Indien. Auf Sanskrit bedeutet er „Krone“. Sie schmunzelte kurz. Krone… Eigentlich tönte ihr das zu sehr nach Prinzessin. Als kleines Mädchen hatte sie vom Prinzen auf dem weissen Pferd geträumt, so wie das alle Märchen und Hollywood-Filme suggerieren. Seit sie selbst zwei Mädchen geboren hatte, war dieses Weltbild gefallen. Ihre Mädchen sollten stark und unabhängig werden, mutig und für sich selbst verantwortlich. Kein Prinz soll sie je retten, warum auch? Sie sollen alle Werkzeuge und Waffen erhalten, sich jederzeit selbst zu retten. Und sie wusste, dass ihre Mädchen das nur lernen konnten, wenn sie ein gutes Vorbild abgab. Und deshalb hatte sie begonnen, aufzuräumen. All den alten Ballast abzuwerfen und für sich selbst einzustehen. Prinzen? Die konnten sie mal kreuzweise. Die wollte sowieso alle nur das schöne Burgfräulein, das winkt und lächelt und hübsch aussieht. Sie aber war wild. Wild und feurig. Man hatte sie als Kind zur Prinzessin gemacht, brav und lieblich, angepasst und nett. Eine, die immer perfekt ist. Für alle andern. Sie hatte dieses Leben lange gelebt. Ein Chamäleon, das sich den Menschen ausserhalb anpasste. Sie beherrschte diesen Tanz perfekt. Aber dann kamen die Mädchen und sie begann, all die Masken abzulegen, die sie jahrelang getragen hatte. Und jetzt stand sie nackt und frei in ihrem Leben. Das macht verletzlich. Aber das Leben ist ein einziges Risiko und man kann nur gewinnen: entweder das pure Glück oder die bittere Erfahrung. Und beides ist wertvoll.

Ihr Herz war schwer und leicht zugleich. Lange war sie eine Prinzessin gewesen, gefangen in den goldenen Mauern des Schlosses, die so erdrückend auf ihrer Seele lagen. Jetzt hatte sie ihre Krone abgelegt und sie gegen einen Blumenkranz getauscht. Lieber Blumen als Gold. Lieber Chaos als Sicherheit. Und in all diesem Chaos war er aufgetaucht, der Anti-Prinz. Er war wild und frei und berührte ihr Herz mehr, als ihr lieb war. Und er liess ihr keine Wahl, als zu springen. Ins Ungewisse. Und sie sprang. Und das Schöne daran war: er musste sie nicht auffangen. Niemand musste das. Denn sie hatte gelernt zu fliegen. Alleine. Und dennoch war da diese unbändige Kraft der Liebe. Sie wusste, dass sie ihn nie zähmen könnte. Das wollte sie auch nicht. Denn sie wollte auch nicht gezähmt werden. Sie wollte leben, lieben und frei sein – gemeinsam mit ihm. Ob er das Abenteuer mit ihr wagen würde?

Ihr Blick schweifte über die Reisenden. Sie war auch eine Reisende. Auf der Reise ihres Lebens. Neugierig und ängstlich, was das Leben bereit halten wird. Sie wusste, dass das Leben mit ihm eine Herausforderung würde. Er berührte Stellen in ihr, die sie selbst noch nie gesehen hatte. Ihr Ticket in die Freiheit. Sie stand auf, packte ihre Tasche und machte sich auf den Weg nach Hause. Ob mit oder ohne ihn: Sie wusste, es wird alles gut. Das wird es immer.

26 August 2021

Helsinki

Wie eine Trillerpfeife schrillte das Hoteltelefon in Sofias Ohr und riss sie aus dem Schlaf. Sie griff nach dem Hörer. Sami, der junge Empfangsmitarbeiter, wünschte ihr mit seiner dauerfröhlichen Stimme einen guten Morgen und stellte einen Anruf durch. Sie setzte sich auf und wartete auf die Verbindung. Die helle Anzeige des Radioweckers blendete sie unsanft: 06:53. Verdammt. Es knackte in der Leitung. «Sofia, hey, hier Jonas. Wie geht’s dir? Was machst du? Also weisst du, ich möchte nicht stören, aber…» Sofia liess sich ins Kissen fallen und seufzte. Nicht stören möchtest du, ja klar. Sie verdrehte die Augen. Während Jonas ohne Punkt und Komma in den Hörer quatschte, rieb sich Sofia die linke Schläfe. Ausschlafen. Es war ein Fehler gewesen, ihre Hoteladresse im Büro zu hinterlegen. Seit ihrem Zusammenbruch vor drei Wochen versuchte sie sich verzweifelt in diesem Loslassen, von dem alle erzählen. «Sie müssten loslassen, Frau Diaz», hatte auch ihr Therapeut gesagt. Aber wie loslassen, wenn es gar nichts zum Festhalten gibt?  

«… und deshalb brauche ich die Akte jetzt ziemlich dringend. Wo hast du sie abgelegt?», stoppte Jonas abrupt das Gedankenkarrussell in Sofias Kopf. Sie rieb sich die Augen. «Sof, bist du noch da?» Der gehetzte Unterton in Jonas‘ Stimme war nicht zu überhören. Sofia seufzte erneut. «Ja, ja. Welcher Kunde nochmal? Aber eigentlich… Wie ich schon vor einer Woche gesagt habe: ich habe alles abgelegt. Und ich habe ein Protokoll geschrieben.» Ihre Lippen formten ein lautloses «Idiot». Jonas nuschelte patzig: «Ja, klar. Aber ich dachte, es geht schneller, wenn du mir kurz hilfst.» Sofia atmete hörbar ein. «Jonas, hör zu. Ich möchte echt nicht unhöflich sein, aber ich bin in meinem Sabbatical. Ich will nur in absoluten Notfällen von euch hören. Und das ist keiner.» Den letzten Satz flüsterte sie noch ein zweites Mal unhörbar vor sich hin. Und dann half sie ihm doch. Wie immer. Wie in den zig Fällen zuvor, in denen man sie immer und überall kontaktiert hatte. Egal ob im Sommerurlaub, im Wellnessweekend oder auf der Beerdigung ihrer besten Freundin vor ein paar Monaten. Sie warf einen Blick auf ihr Handy. 07:02 Uhr. Sie hatte heute ausschlafen wollen. Ausschlafen. Ein Luxus, den sie sich in den letzten Jahren kein einziges Mal gegönnt hatte. Auf dem Weg durchs dunkle Zimmer stiess sie sich den Zeh am Türrahmen zum Bad. Fluchend knipste sie das Licht an. Ihr abgekämpftes Spiegelbild sprach Bände: die dunklen Augenringe passten perfekt zu ihrem lustlosen schwarzen Haar. «Wer bist du?», dachte sie. Langsam zog sie sich an. Sie verspürte keinen Hunger, aber sie brauchte einen Kaffee. 

Draussen war es noch immer nicht richtig hell. Und so würde es den ganzen Tag auch bleiben. So erfrischend schön sie den Sommer in Helsinki fand, so unfreundlich dunkel fühlte sich der Winter an. Wie tausend kleine Messerstiche blies ihr der eisige Wind kleine Schneeflocken ins Gesicht. Der dichte Schneenebel legte sich wie ein grauer Schleier über die Weihnachtsbeleuchtung in den Strassen. Dick vermummt huschten Passanten an ihr vorbei, als sie den schmalen Weg zur Uspenski Kathedrale hochging. Niemand nahm Notiz von ihr. Das Schneetreiben liess die ziegelsteinrote Farbe der Mauern verblassen. Die goldenen Spitzen auf den mattgrünen Kupferdächern blitzten wie kleine Leuchttürme durch das Schneegestöber. Mit dem Ärmel ihres Mantels wischte sie den Schnee von ihrem Lieblingsplatz neben der steinernen Treppe und setzte sich hin. Die sonst so weite Aussicht über die Dächer von Helsinki war komplett vernebelt. Sie betrachtete ihre Schuhspitzen. Die Spuren ihrer Schritte waren bereits unter einer Schicht Neuschnee verschwunden. Sie hatte auf ihrem Weg hierher keine Spuren hinterlassen. Keine. Und dann kam es wie eine Welle über sie: Tränen. Loslassen. Endlich. 

„Möchten Sie einen heissen Tee?“ Eine tiefe, warme Stimme holte sie aus ihrer Dunkelheit. Durch den Tränenschleier sah sie einen grossgewachsenen Mann, der ihr eine dampfende Tasse Tee aus einer Thermoskanne reichte. Die Tasse wärmte ihre durchgefrorenen Finger. Sie murmelte leise eines der wenigen finnischen Worte, das sie kannte: „Kiitos“.  

To be continued…

9 Juli 2021

Bahnhof der Erinnerungen

Rums! Sein Koffer knallt auf den Bahnsteig, Kurz darauf springt auch er aus dem Zug. Ein Pfiff ertönt und der Zug setzt sich wieder in Bewegung. Er sieht ihm nach, bis die roten Rücklichter hinter einer Kurve verschwunden sind. Da ist er nun. Er sieht sich um. Ein komisches Gefühl überfällt ihn. Ja, da ist er nun. Wann hat er das letzte Mal auf diesem Bahnsteig gestanden? Jahre ist es her. Sieben lange Jahre. Keine Menschenseele ist zu sehen. Wie immer, der gute alte Bahnhof, einsam und verlassen, denkt er sich. Und da, die Bank. Sieh an, sie steht noch da. Neu gestrichen hat man sie. Feuerrot leuchtet sie in die Dämmerung hinein, wie ein Fremdkörper wirkt sie. Nachdenklich geht er auf sie zu, setzt sich hin. Er schaut nach links, dann nach rechts. Alles wirkt so vertraut, und doch so unglaublich fremd. Die Uhr zum Beispiel. Er betrachtet sie und sofort fühlt er sich um Jahre zurückversetzt. Ja, wie ist das damals gewesen – damals! – als er noch zur Schule gegangen ist. Noch genau wie damals tickt die gute alte Uhr Tag für Tag, Nacht für Nacht, immerfort. Wie doch die Zeit vergeht.

Ganz weit weg, tief in seinen Gedanken, hört er sie lachen. Ihr helles Lachen, das man immer gehört hat, auch ganz früh morgens, wenn alle noch halb verschlafen auf den Zug gewartet haben. Und wie sie dabei immer ihren Kopf in den Nacken gelegt hat und ihre blonden Locken geschüttelt hat. Sie war so wunderschön. Er schüttelt den Kopf, reibt sich die Augen. Ihr Bild verblasst. Es ist jetzt dunkler geworden und die hellen Lampen tauchen den Bahnsteig in ein gleissendes Licht. Er blinzelt. Dort steht sein Koffer, mitten im Lichtkegel der Lampe. Wieder schweift er zurück. Er sieht den Koffer stehen, ja, da ist er noch ganz neu gewesen, das weiche Leder hat geglänzt. Er hält nicht viel von diesen Kunststoffkoffern. Sie sind so kalt, so leblos. Doch das schöne braune Leder, das hat ihm gefallen. Oder besser: Es hat ihr gefallen. Er hätte lieber den schwarzen Koffer gekauft, doch sie, sie hat sich für den braunen entschieden. Ja, doch, eigentlich ist der braune ja auch schöner. Ach, was ist schon ein Koffer. Und trotzdem. Er erinnert ihn an sie. Damals…

Das Bild des neuen Koffers verblasst, wieder steht der verblichene, alte, mitgenommene Koffer im Lichtschein der Lampe. Er legt den Kopf in den Nacken. Ganz weit weg hört er ein Rufen. Er sieht nach rechts zur Treppe. Da! Da… steht sie! Ans Treppengeländer angelehnt winkt sie ihm zu: «Komm! Komm schon! Der Zug kommt gleich!» Sie lacht und wirft ihren Kopf zurück, sie strahlt, und der Wind spielt sanft mit ihren goldenen Locken. Himmel, sie ist wunderschön, denkt er. Er blinzelt, und das Bild verblasst. Niemand steht da am Geländer. Nie wieder wird sie ihn von dort aus rufen. Warum nur?

Langsam legt der den Kopf zurück und schliesst die Augen. Vor seinem inneren Auge spielt sich immer wieder dieselbe Szene ab. Sie steht am Treppengeländer und winkt ihm zu. Wie ist das noch gewesen, hier am Bahnhof, wo er sie kennengelernt hat. Jeden Morgen hat er sie getroffen, jeden Morgen sind sie mit demselben Zug zur Schule gefahren. Ein kurzer Blickkontakt, ein Lächeln. Nie, nie wird er vergessen, wie sie ihm zum ersten Mal «Hallo!» zugerufen hat, nie wird er den Klang ihrer fröhlichen Stimme vergessen. Am letzten Schultag hat er sich dann endlich getraut, sie zu fragen, ob sie mit ihm ausgehen will. Er würde sie nachher morgens sowieso nicht wiedersehen, also was hat es da zu verlieren gegeben? Sie hat ja gesagt und gestrahlt. Wunderschön, unbeschreiblich! Von da an waren sie unzertrennlich gewesen. Hals über Kopf haben sie ein Jahr später geheiratet, beide jung, erst 21, und doch haben beide gewusst: Ich habe mein perfektes Gegenstück gefunden. Glücklich sind sie gewesen, und nichts hat dieses Glück trüben können. Vor sieben Jahren sind sie von hier fortgegangen. Oh ja, wie haben ihre Augen geleuchtet, als sie hier am Bahnhof gestanden und auf den Zug gewartet haben.

Er öffnet die Augen, sieht wieder hinüber zum Treppengeländer. Er wird dieses Bild nie vergessen. Nie. Sie hat so endlos glücklich ausgesehen, damals. Er senkt den Kopf, streicht über die lackierten Latten der Bank. Schmerz bereitet sich in seiner Brust aus, als würde ihm jemand ein Messer hineinstossen. Warum?!

Er sieht sich im Zugabteil sitzen, ihr gegenüber, und die Landschaft zieht vorbei. Zuerst ist alles noch vertraut, dann wirds fremd. Sie ist aufgeregt, wie ein kleines Mädchen. Seine Frau. Diese wunderbare, herzensgute, bildschöne Frau. Seine Augen werden feucht. Zornig wischt er mit dem Ärmel über sein Gesicht. Er muss endlich davon wegkommen. Und doch. Ihr Bild wird nie verblassen.

Weit sind sie gefahren mit dem Zug. Angekommen im neuen Heim, haben sie zwei unvergessliche Jahre verbracht. Sie hat sich immer Kinder gewünscht. Bestimmt wäre sie eine gute Mutter geworden. Doch sie ist nicht schwanger geworden. Sie haben es immer wieder versucht, aber sie ist nie schwanger geworden. Unfruchtbarkeit hat der Arzt diagnostiziert. Das hat sie hart getroffen. Sie ist stiller geworden, hat sich in sich zurückgezogen. Ihr Lachen ist verschwunden. Wieder treten ihm Tränen in die Augen, doch diesmal wischt er sie nicht weg. Niemand kann ihm den Schmerz nehmen, den Verlust, dass sie nicht mehr Teil seines Lebens ist. Er schliesst die Augen, umklammert die roten Latten der Bank, so dass seine Knöchel weiss werden.

Er sieht sie am Fenster sitzen, traurig, weinend. «Ich will nicht mehr», stöhnt sie. Immer hat er versucht, sie aus ihrem Tief herauszuholen, doch ohne Erfolg. Was hätte er noch tun sollen? Eines Tages ist sie nicht mehr da gewesen. Nur ein Zettel hat auf dem Küchentisch gelegen: «Es tut mir Leid. Ich liebe dich.» Nichts weiter. Ein Jahr ist es nun her. Keine Ahnung, wohin sie verschwunden ist.

Alles im Haus hat ihn an sie erinnert. Er hat es verkauft und ist hierher zurückgekehrt. Und hier sitzt er nun. Hier am Bahnhof. Alleine. Inzwischen ist es dunkel geworden. Er schaut auf die Uhr. Es ist schon 22 Uhr, vielleicht sollte er aufbrechen. Seine Mutter wartet schon. Er lehnt sich nach vorne, stützt den Kopf auf den Händen ab und betrachtet den Boden. Da vorne steht immer noch der Koffer. Er gibt sich einen Ruck und steht auf. Noch einmal dreht er den Kopf zum Geländer. Er erschrickt. Da steht sie. Aber nicht an diesem wunderschönen Sommertag vor sieben Jahren und winkend, sondern ganz real scheint sie zu sein. Er schüttelt den Kopf und geht zum Koffer. «Michael.» Er zuckt zusammen. Hat er das geträumt? Wieder: «Michael!» Er dreht sich zum Geländer. Da steht sie, da steht sie wirklich. «Deine Mutter hat gesagt, du kommst heute nach Hause zurück.» Er versteht die Welt nicht mehr. Wie bitte? Seine Mutter, zu ihr? Wieso hat er nichts davon gewusst, dass sie noch lebt? Das muss ein Traum sein. Er hat sie tot geglaubt und das hat für ihn das Leben erträglicher gemacht. Sie kann nicht einfach dastehen! Eine Hand berührt seine Schulter. «Michael, es tut mir Leid. Hast du Zeit zum Reden?» Er fühlt sich, als hätte ihn jemand aus der Wirklichkeit gestossen. Einerseits ist sie wieder da, seine einzige Liebe, andererseits überfällt ihn eine riesige Wut, dass sie ihn so alleine gelassen hat. «Ich… du… lass mich allein! Bitte! Ich weiss nicht…», mitten im Satz bricht er ab. Sie sehen sich beide an. Tränen laufen über ihre Wangen. Immer wieder murmelt sie, «es tut mir Leid. Bitte vergib mir, bitte, es tut mir so Leid!» Er umarmt sie. Wie hat er sie vermisst. Ist das ein Neuanfang? Oder nimmt er nur endlich richtig Abschied? Er weiss es nicht. Er sieht hinaus in die Dunkelheit. Hier, am Bahnhof, hat er sie zum ersten Mal gesehen. Hier, am Bahnhof, ist er mit ihr in ein neues, gemeinsames Leben aufgebrochen. Und hier, am Bahnhof, soll er Abschied nehmen? Er blinzelt. Weit weg sieht er ein Lichtsignal aufblitzen. Eine Weiche ist gerade gestellt worden.

5 Juli 2021

Loslassen

Ich habe geliebt, geweint, gehofft.
Verliebt, verlassen, verloren.
Achterbahn bin ich gefahren.
Es war eine lange Reise.
Es war ein langer Tag.
Es ist zeit, Lebewohl zu sagen.

Ich versuche zu atmen. Ein dicker Kloss im Hals, eine heisse Träne auf der Wange. Ich denke an dich und fühle mich frei. Schmerzhaft frei. Nie hätte ich gedacht, dass ich jemanden wie dich treffe. Nie hätte ich gedacht, dass ich jemanden wie dich verliere.
Die Zeit mit dir war so schön.
So klar.
So richtig.
So einzigartig.
So viel Liebe.
Jede Sekunde unserer gemeinsamen Reise war kostbar. Jeden Moment habe ich genossen. Deine Ungeduld, deine forsche Art. Dich zu sehen war pure Magie. Dich zu küssen der Himmel. Dich zu lieben war… zu leben.

Was uns getrennt hat, vermag ich nur vermuten.
Barrieren der Angst, Schranken der Verpflichtung, Gräben der Unsicherheit.
Ich weiss, dass dein Gefühl für mich so kostbar ist, wie meines für dich. Ein Pflänzchen, kümmerlich klein, lechzend nach Wasser.
Du hast mir deine Mauern geöffnet, als wir so unerwartet und ungebeten aufeinander trafen, als der Strom uns mitriss in einen Strudel aus Gefühlen, dem wir nicht mächtig waren. Dessen Kraft dir zu gross wurde. Ich habe mich fallen gelassen und vergebens deine rettenden Arme gesucht. Du musstest dich schützen. Dich und dein zerbrechliches Ich, das noch nicht bereit war, auf einen Wirbelsturm wie mich zu treffen. Deine Mauern sind wieder geschlossen.
Vergeblich habe ich an deine Türen geklopft.
Vergeblich habe ich versucht, Einlass zu finden.
Hilflos, hoffnungslos, haltlos.

Jetzt stehe ich am Wegrand und sehe dir nach. Du bist weggelaufen. So hilflos und hoffnungslos und haltlos wie ich. Nicht einmal Lebewohl hast du gesagt.
Ich sehe dir nach.
Das Licht in dir, es glüht schwach.

Meine Gedanken gehen zurück in die glücklichen Tage. Kurz und heftig. Warum? Warum hast du nicht für uns gekämpft? Wohl weil du deine Kraft für deinen eigenen Kampf brauchtest. Und brauchst. Der Schmerz sitzt tief. Die Wunde brennt. Brennt, wie unser Feuer gebrannt hat. Aber Liebe muss man pflegen.

Ich sehe dich weggehen. Abrupt aus meinem Leben rennen. Fluchtartig meine Seite verlassen. Ich verstehe dich. Ich weiss, dass es richtig ist. Dass das Universum weiss, weshalb es uns beiden diese Lektion lehrt. Es ist alles genau in der Ordnung, in dem Chaos, in dem es sein muss. Was unsere Zukunft bringen mag, wissen wir beide nicht. Hört wahre Liebe je auf?
Du bist fest in meinem Herzen, tief vergraben. Ich wünsche dir, dass du glücklich wirst. Endlich glücklich wirst. Von Herzen. Denn ich werde mein Glück finden, daran zweifle ich nicht.

Du bist nur noch ein kleiner Punkt am Horizont. Die untergehende Sonne taucht dich in ihr Licht. Deine Suche wird ein Ende haben.
Be a simple kind of man.

Ich fröstle. Die Dämmerung hüllt alles um mich in einen nächtlichen Schleier. Eine einsame Träne kullert über meine Wange.

Morgen ist ein neuer Tag.

 

Dieser Text ist nicht perfekt. Aber er bedeutet mir sehr viel. Ich habe ihn geschrieben, als vor vielen Jahren eine grosse Liebe an den Umständen scheiterte. Noch heute spüre ich zu diesem wunderbaren Menschen eine tiefe Verbundenheit und ich bin glücklich, dass trotz all der vielen Jahre zwischen uns so viel Liebe, Respekt, Achtung und Freundschaft erhalten geblieben ist.