Helsinki
Wie eine Trillerpfeife schrillte das Hoteltelefon in Sofias Ohr und riss sie aus dem Schlaf. Sie griff nach dem Hörer. Sami, der junge Empfangsmitarbeiter, wünschte ihr mit seiner dauerfröhlichen Stimme einen guten Morgen und stellte einen Anruf durch. Sie setzte sich auf und wartete auf die Verbindung. Die helle Anzeige des Radioweckers blendete sie unsanft: 06:53. Verdammt. Es knackte in der Leitung. «Sofia, hey, hier Jonas. Wie geht’s dir? Was machst du? Also weisst du, ich möchte nicht stören, aber…» Sofia liess sich ins Kissen fallen und seufzte. Nicht stören möchtest du, ja klar. Sie verdrehte die Augen. Während Jonas ohne Punkt und Komma in den Hörer quatschte, rieb sich Sofia die linke Schläfe. Ausschlafen. Es war ein Fehler gewesen, ihre Hoteladresse im Büro zu hinterlegen. Seit ihrem Zusammenbruch vor drei Wochen versuchte sie sich verzweifelt in diesem Loslassen, von dem alle erzählen. «Sie müssten loslassen, Frau Diaz», hatte auch ihr Therapeut gesagt. Aber wie loslassen, wenn es gar nichts zum Festhalten gibt?
«… und deshalb brauche ich die Akte jetzt ziemlich dringend. Wo hast du sie abgelegt?», stoppte Jonas abrupt das Gedankenkarrussell in Sofias Kopf. Sie rieb sich die Augen. «Sof, bist du noch da?» Der gehetzte Unterton in Jonas‘ Stimme war nicht zu überhören. Sofia seufzte erneut. «Ja, ja. Welcher Kunde nochmal? Aber eigentlich… Wie ich schon vor einer Woche gesagt habe: ich habe alles abgelegt. Und ich habe ein Protokoll geschrieben.» Ihre Lippen formten ein lautloses «Idiot». Jonas nuschelte patzig: «Ja, klar. Aber ich dachte, es geht schneller, wenn du mir kurz hilfst.» Sofia atmete hörbar ein. «Jonas, hör zu. Ich möchte echt nicht unhöflich sein, aber ich bin in meinem Sabbatical. Ich will nur in absoluten Notfällen von euch hören. Und das ist keiner.» Den letzten Satz flüsterte sie noch ein zweites Mal unhörbar vor sich hin. Und dann half sie ihm doch. Wie immer. Wie in den zig Fällen zuvor, in denen man sie immer und überall kontaktiert hatte. Egal ob im Sommerurlaub, im Wellnessweekend oder auf der Beerdigung ihrer besten Freundin vor ein paar Monaten. Sie warf einen Blick auf ihr Handy. 07:02 Uhr. Sie hatte heute ausschlafen wollen. Ausschlafen. Ein Luxus, den sie sich in den letzten Jahren kein einziges Mal gegönnt hatte. Auf dem Weg durchs dunkle Zimmer stiess sie sich den Zeh am Türrahmen zum Bad. Fluchend knipste sie das Licht an. Ihr abgekämpftes Spiegelbild sprach Bände: die dunklen Augenringe passten perfekt zu ihrem lustlosen schwarzen Haar. «Wer bist du?», dachte sie. Langsam zog sie sich an. Sie verspürte keinen Hunger, aber sie brauchte einen Kaffee.
Draussen war es noch immer nicht richtig hell. Und so würde es den ganzen Tag auch bleiben. So erfrischend schön sie den Sommer in Helsinki fand, so unfreundlich dunkel fühlte sich der Winter an. Wie tausend kleine Messerstiche blies ihr der eisige Wind kleine Schneeflocken ins Gesicht. Der dichte Schneenebel legte sich wie ein grauer Schleier über die Weihnachtsbeleuchtung in den Strassen. Dick vermummt huschten Passanten an ihr vorbei, als sie den schmalen Weg zur Uspenski Kathedrale hochging. Niemand nahm Notiz von ihr. Das Schneetreiben liess die ziegelsteinrote Farbe der Mauern verblassen. Die goldenen Spitzen auf den mattgrünen Kupferdächern blitzten wie kleine Leuchttürme durch das Schneegestöber. Mit dem Ärmel ihres Mantels wischte sie den Schnee von ihrem Lieblingsplatz neben der steinernen Treppe und setzte sich hin. Die sonst so weite Aussicht über die Dächer von Helsinki war komplett vernebelt. Sie betrachtete ihre Schuhspitzen. Die Spuren ihrer Schritte waren bereits unter einer Schicht Neuschnee verschwunden. Sie hatte auf ihrem Weg hierher keine Spuren hinterlassen. Keine. Und dann kam es wie eine Welle über sie: Tränen. Loslassen. Endlich.
„Möchten Sie einen heissen Tee?“ Eine tiefe, warme Stimme holte sie aus ihrer Dunkelheit. Durch den Tränenschleier sah sie einen grossgewachsenen Mann, der ihr eine dampfende Tasse Tee aus einer Thermoskanne reichte. Die Tasse wärmte ihre durchgefrorenen Finger. Sie murmelte leise eines der wenigen finnischen Worte, das sie kannte: „Kiitos“.
To be continued…