Bahnhof der Erinnerungen
Rums! Sein Koffer knallt auf den Bahnsteig, Kurz darauf springt auch er aus dem Zug. Ein Pfiff ertönt und der Zug setzt sich wieder in Bewegung. Er sieht ihm nach, bis die roten Rücklichter hinter einer Kurve verschwunden sind. Da ist er nun. Er sieht sich um. Ein komisches Gefühl überfällt ihn. Ja, da ist er nun. Wann hat er das letzte Mal auf diesem Bahnsteig gestanden? Jahre ist es her. Sieben lange Jahre. Keine Menschenseele ist zu sehen. Wie immer, der gute alte Bahnhof, einsam und verlassen, denkt er sich. Und da, die Bank. Sieh an, sie steht noch da. Neu gestrichen hat man sie. Feuerrot leuchtet sie in die Dämmerung hinein, wie ein Fremdkörper wirkt sie. Nachdenklich geht er auf sie zu, setzt sich hin. Er schaut nach links, dann nach rechts. Alles wirkt so vertraut, und doch so unglaublich fremd. Die Uhr zum Beispiel. Er betrachtet sie und sofort fühlt er sich um Jahre zurückversetzt. Ja, wie ist das damals gewesen – damals! – als er noch zur Schule gegangen ist. Noch genau wie damals tickt die gute alte Uhr Tag für Tag, Nacht für Nacht, immerfort. Wie doch die Zeit vergeht.
Ganz weit weg, tief in seinen Gedanken, hört er sie lachen. Ihr helles Lachen, das man immer gehört hat, auch ganz früh morgens, wenn alle noch halb verschlafen auf den Zug gewartet haben. Und wie sie dabei immer ihren Kopf in den Nacken gelegt hat und ihre blonden Locken geschüttelt hat. Sie war so wunderschön. Er schüttelt den Kopf, reibt sich die Augen. Ihr Bild verblasst. Es ist jetzt dunkler geworden und die hellen Lampen tauchen den Bahnsteig in ein gleissendes Licht. Er blinzelt. Dort steht sein Koffer, mitten im Lichtkegel der Lampe. Wieder schweift er zurück. Er sieht den Koffer stehen, ja, da ist er noch ganz neu gewesen, das weiche Leder hat geglänzt. Er hält nicht viel von diesen Kunststoffkoffern. Sie sind so kalt, so leblos. Doch das schöne braune Leder, das hat ihm gefallen. Oder besser: Es hat ihr gefallen. Er hätte lieber den schwarzen Koffer gekauft, doch sie, sie hat sich für den braunen entschieden. Ja, doch, eigentlich ist der braune ja auch schöner. Ach, was ist schon ein Koffer. Und trotzdem. Er erinnert ihn an sie. Damals…
Das Bild des neuen Koffers verblasst, wieder steht der verblichene, alte, mitgenommene Koffer im Lichtschein der Lampe. Er legt den Kopf in den Nacken. Ganz weit weg hört er ein Rufen. Er sieht nach rechts zur Treppe. Da! Da… steht sie! Ans Treppengeländer angelehnt winkt sie ihm zu: «Komm! Komm schon! Der Zug kommt gleich!» Sie lacht und wirft ihren Kopf zurück, sie strahlt, und der Wind spielt sanft mit ihren goldenen Locken. Himmel, sie ist wunderschön, denkt er. Er blinzelt, und das Bild verblasst. Niemand steht da am Geländer. Nie wieder wird sie ihn von dort aus rufen. Warum nur?
Langsam legt der den Kopf zurück und schliesst die Augen. Vor seinem inneren Auge spielt sich immer wieder dieselbe Szene ab. Sie steht am Treppengeländer und winkt ihm zu. Wie ist das noch gewesen, hier am Bahnhof, wo er sie kennengelernt hat. Jeden Morgen hat er sie getroffen, jeden Morgen sind sie mit demselben Zug zur Schule gefahren. Ein kurzer Blickkontakt, ein Lächeln. Nie, nie wird er vergessen, wie sie ihm zum ersten Mal «Hallo!» zugerufen hat, nie wird er den Klang ihrer fröhlichen Stimme vergessen. Am letzten Schultag hat er sich dann endlich getraut, sie zu fragen, ob sie mit ihm ausgehen will. Er würde sie nachher morgens sowieso nicht wiedersehen, also was hat es da zu verlieren gegeben? Sie hat ja gesagt und gestrahlt. Wunderschön, unbeschreiblich! Von da an waren sie unzertrennlich gewesen. Hals über Kopf haben sie ein Jahr später geheiratet, beide jung, erst 21, und doch haben beide gewusst: Ich habe mein perfektes Gegenstück gefunden. Glücklich sind sie gewesen, und nichts hat dieses Glück trüben können. Vor sieben Jahren sind sie von hier fortgegangen. Oh ja, wie haben ihre Augen geleuchtet, als sie hier am Bahnhof gestanden und auf den Zug gewartet haben.
Er öffnet die Augen, sieht wieder hinüber zum Treppengeländer. Er wird dieses Bild nie vergessen. Nie. Sie hat so endlos glücklich ausgesehen, damals. Er senkt den Kopf, streicht über die lackierten Latten der Bank. Schmerz bereitet sich in seiner Brust aus, als würde ihm jemand ein Messer hineinstossen. Warum?!
Er sieht sich im Zugabteil sitzen, ihr gegenüber, und die Landschaft zieht vorbei. Zuerst ist alles noch vertraut, dann wirds fremd. Sie ist aufgeregt, wie ein kleines Mädchen. Seine Frau. Diese wunderbare, herzensgute, bildschöne Frau. Seine Augen werden feucht. Zornig wischt er mit dem Ärmel über sein Gesicht. Er muss endlich davon wegkommen. Und doch. Ihr Bild wird nie verblassen.
Weit sind sie gefahren mit dem Zug. Angekommen im neuen Heim, haben sie zwei unvergessliche Jahre verbracht. Sie hat sich immer Kinder gewünscht. Bestimmt wäre sie eine gute Mutter geworden. Doch sie ist nicht schwanger geworden. Sie haben es immer wieder versucht, aber sie ist nie schwanger geworden. Unfruchtbarkeit hat der Arzt diagnostiziert. Das hat sie hart getroffen. Sie ist stiller geworden, hat sich in sich zurückgezogen. Ihr Lachen ist verschwunden. Wieder treten ihm Tränen in die Augen, doch diesmal wischt er sie nicht weg. Niemand kann ihm den Schmerz nehmen, den Verlust, dass sie nicht mehr Teil seines Lebens ist. Er schliesst die Augen, umklammert die roten Latten der Bank, so dass seine Knöchel weiss werden.
Er sieht sie am Fenster sitzen, traurig, weinend. «Ich will nicht mehr», stöhnt sie. Immer hat er versucht, sie aus ihrem Tief herauszuholen, doch ohne Erfolg. Was hätte er noch tun sollen? Eines Tages ist sie nicht mehr da gewesen. Nur ein Zettel hat auf dem Küchentisch gelegen: «Es tut mir Leid. Ich liebe dich.» Nichts weiter. Ein Jahr ist es nun her. Keine Ahnung, wohin sie verschwunden ist.
Alles im Haus hat ihn an sie erinnert. Er hat es verkauft und ist hierher zurückgekehrt. Und hier sitzt er nun. Hier am Bahnhof. Alleine. Inzwischen ist es dunkel geworden. Er schaut auf die Uhr. Es ist schon 22 Uhr, vielleicht sollte er aufbrechen. Seine Mutter wartet schon. Er lehnt sich nach vorne, stützt den Kopf auf den Händen ab und betrachtet den Boden. Da vorne steht immer noch der Koffer. Er gibt sich einen Ruck und steht auf. Noch einmal dreht er den Kopf zum Geländer. Er erschrickt. Da steht sie. Aber nicht an diesem wunderschönen Sommertag vor sieben Jahren und winkend, sondern ganz real scheint sie zu sein. Er schüttelt den Kopf und geht zum Koffer. «Michael.» Er zuckt zusammen. Hat er das geträumt? Wieder: «Michael!» Er dreht sich zum Geländer. Da steht sie, da steht sie wirklich. «Deine Mutter hat gesagt, du kommst heute nach Hause zurück.» Er versteht die Welt nicht mehr. Wie bitte? Seine Mutter, zu ihr? Wieso hat er nichts davon gewusst, dass sie noch lebt? Das muss ein Traum sein. Er hat sie tot geglaubt und das hat für ihn das Leben erträglicher gemacht. Sie kann nicht einfach dastehen! Eine Hand berührt seine Schulter. «Michael, es tut mir Leid. Hast du Zeit zum Reden?» Er fühlt sich, als hätte ihn jemand aus der Wirklichkeit gestossen. Einerseits ist sie wieder da, seine einzige Liebe, andererseits überfällt ihn eine riesige Wut, dass sie ihn so alleine gelassen hat. «Ich… du… lass mich allein! Bitte! Ich weiss nicht…», mitten im Satz bricht er ab. Sie sehen sich beide an. Tränen laufen über ihre Wangen. Immer wieder murmelt sie, «es tut mir Leid. Bitte vergib mir, bitte, es tut mir so Leid!» Er umarmt sie. Wie hat er sie vermisst. Ist das ein Neuanfang? Oder nimmt er nur endlich richtig Abschied? Er weiss es nicht. Er sieht hinaus in die Dunkelheit. Hier, am Bahnhof, hat er sie zum ersten Mal gesehen. Hier, am Bahnhof, ist er mit ihr in ein neues, gemeinsames Leben aufgebrochen. Und hier, am Bahnhof, soll er Abschied nehmen? Er blinzelt. Weit weg sieht er ein Lichtsignal aufblitzen. Eine Weiche ist gerade gestellt worden.